Emotionsgeladen
Jeder Milchviehbetrieb, der seine Kälber nach der Kalbung separiert, kennt den Vorwurf: „Ein Kind braucht doch seine Mama.“ Vor allem in der heutigen Zeit ist das ein sensibles Thema, das immer mal wieder in der Öffentlichkeit diskutiert und von Tierrechtlern (!) ausgeschlachtet wird. Bei verwandten Themen, wie Familie und Kinder, übernehmen Emotionen die Oberhand und das macht eine sachliche Diskussion unmöglich. Vor allem die heutigen Medien zeigen ein oft verzerrtes Bild von der Natur und der Tierwelt. Das wiederum prägt vor allem Menschen, die kaum Bezug zu diesen Themen haben. Bei Tieren wird die Situation dann aus menschlicher Sicht wahrgenommen und dabei sieht die Realität meist ganz anders aus. Ein Beispiel ist hier der gerettete Straßenhund, der dankbar und freudestrahlend in die Kamera „lächelt“. Das er einfach nur gestresst und von der ungewohnten Situation überfordert ist, wird nicht erwähnt.
Kuh und Kalb
Im Hinblick auf die Trennung von Kuh und Kalb ist es ähnlich. Bearbeitete Videos mit düsteren Filtern, trauriger Musik im Hintergrund und einer herzzerreißenden Geschichte kursieren im Internet. In ihnen wird das Abnehmen des Kalbes emotional dargestellt mit lautstark brüllenden Kühen und Kälbern. Schaut man genauer hin, sieht man hier in den meisten Fällen unterschiedliche, aus dem Zusammenhang gerissene Aufnahmen verschiedener Tiere. Die Situation auf den Betrieben ist in den meisten Fällen eine ganz andere und die frühe Trennung hat durchaus einen Grund: zwischen Kuh und Kalb hat sich noch keine Bindung aufgebaut, es gibt keinen Trennungsschmerz und die Tiere rufen sich nicht. Lässt man die beiden länger – vielleicht sogar ein paar Tage – zusammen, wird es für beide schwerer. Vor allem bei Betrieben in Ortslage ist das in Punkto Lärmbelästigung ein wichtiger Punkt – die Anwohner haben ihre Ruhezeiten, die die Tiere aber nicht kennen.
Dennoch gilt auch hier: DIE Ideallösung gibt es nicht. Jeder Betrieb hat individuell seine Vorgehensweise, die sich gut in die Abläufe einfügt.
Zuchteinfluss
Nicht zu unterschätzen sind auch die Einflüsse der Jahrhunderte alten Zucht. Je nach Situation wurden die damaligen Rinder anhand unterschiedlicher Merkmale selektiert. Daher gibt es auch gewisse Unterschiede zwischen den verschiedenen Rinderrassen. So wurde einigen Milchleistungsrassen im Laufe der Generationen nach und nach die Mütterlichkeit weggezüchtet – und das nicht einmal mit Absicht. Es wurde einfach auf andere Merkmale geachtet. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass es immer mehr Kühe aus besagten Rassen gibt, die mit ihren Kälbern nichts anfangen können, sie ignorieren oder vielleicht sogar angreifen. Daran wird deutlich, wie wenig vergleichbar die heutigen domestizierten Rassen noch mit den Wildformen sind.
Wirtschaftlich
Auch wenn dieser Punkt gern angeprangert wird: Ein landwirtschaftlicher Betrieb ist ein Unternehmen und das muss wirtschaftlich arbeiten. Keiner kann von Ideologien leben. Vor allem in der Milchproduktion sind die Kühe die wichtigsten Mitarbeiterinnen – und die können nur ordentliche Milchleistungen erzielen, wenn es ihnen gut geht. Und genau das zeigt sich schon bei den Kälbern: die intensive Versorgung mit Kolostrum und dann die genaue Beobachtung in den Iglus machen es möglich, dass aus den Kälbern gesunde Kühe werden, die wiederum gesunde Kälber bekommen. Nur so kann ein wirtschaftlicher Kreislauf entstehen. Und das alles kann nur mit einer verantwortungsvollen Versorgung klappen.
Alternativen
Die Milchwirtschaft abzuschaffen oder die Kühe einfach nicht zu melken, ist keine Option. Hier macht sich die Zuchtentwicklung ebenfalls bemerkbar. Die Kuh produziert viel mehr Milch, als ein Kalb alleine trinken kann. Melkt man diese Kühe nicht, bringt das ein hohes Gesundheitsrisiko mit sich.
Aber es gibt alternative Haltungsformen, die sich jedoch nicht in jedem Betrieb einfach so realisieren lassen. Nicht jeder hat die Möglichkeit, die Kälber einfach bei den Müttern zu lassen und trotzdem zu melken. Für die Aufzucht mit einer Ammenkuh braucht es passende und besonders mütterliche Kühe und einiges an Erfahrung. Beides kann deutlich höhere Produktionskosten verursachen und das wiederum muss am Ende der Verbraucher bezahlen können und wollen.
Sachlich bleiben
Auch wenn es in der heutigen, medienüberfluteten Gesellschaft nicht immer einfach ist: ein eigenes Bild von einer Situation bekommt man nicht durch emotionsgeladene Videos oder durch romantisierte Beschreibungen einer Situation. Die Natur ist nicht nur schön und vor allem nicht nett: Raubtiere ernähren sich von anderen Tieren und die Jagd läuft für die Beute alles andere als schmerz- und stressfrei ab. Vögel werfen das schwächste ihrer Jungen aus dem Nest, um das Überleben der anderen zu sichern, von der Überlebensstrategie eines Kuckucks einmal ganz zu schweigen. Vor allem bei Fluchttieren werden kranke, alte oder verletzte Einzeltiere zurückgelassen, da sie sonst die Herde angreifbar machen. Beispiele gibt es viele.
Eine objektive Betrachtung kann leicht manipuliert werden und der Mensch neigt dazu, seine eigenen Gefühle auf die Tierwelt zu übertragen und das funktioniert nicht. Dennoch sollte sich jeder, der sich mit diesem Thema auseinandersetzt, ein eigenes Bild von der Situation machen – und zwar hier vor Ort.
Jeder wie er mag
Jedem steht im Endeffekt frei, welche Produkte er sich leisten kann und will. Für diejenigen, die eine Kuhgebundene Aufzucht unterstützen wollen, gibt ein eigenes Siegel für die aus so einer Haltung stammenden Milch. Aber auch von kleineren Molkereien oder in der Direktvermarktung lassen sich solche Produkte beziehen. Dennoch sind Landwirte, die Kalb und Kuh nach kurzer Zeit trennen, keine schlechten Menschen oder gar Tierquäler. Auch die Kälber in diesen Betrieben wachsen gesund und munter auf, nur eben anders.